Ich sitze an einem sonnigen Märznachmittag auf dem Bahnhof im schwäbischen Städtchen Reutlingen und warte auf meinen Anschlusszug. Städtchen stimmt freilich nicht ganz, Reutlingen hat mehr als 100.000 Einwohner, ist also eine Großstadt. Trotzdem kommt es mir eher kleinstädtisch vor, denn ich muss auf den Regionalexpress, der mich zum Stuttgarter Hauptbahnhof bringt, fast 50 Minuten warten.
Ich nutze die Zeit, um mir Notizen zu machen. Ein junger Mann setzt sich neben mich. Ich schaue hoch, er lacht mich an.Aus einer Papiertüte holt er ein sternförmiges Gebäck heraus und beißt
hinein. „Was ist das denn?“, frage ich ziemlich spontan. „Eine Mutschel, Reutlinger Spezialität aus Mürbeteig“, antwortet er und grinst. Ich erwarte ein „Wollen Sie mal beißen“
stattdessen fragt er: „Sind Sie Journalist? Was schreiben Sie denn da auf?“ „So etwas ähnliches. Ich soll über den Wandel schreiben“, sage ich wahrheitsgemäß. „Welchen Wandel?“, will er es
genauer wissen. „Ich weiß nicht, irgendeinen Wandel. Das ist noch offen.“ „Dann schreiben Sie doch etwas über Fritz Wandel, der hätte es verdient.“
Der junge Mann hat es geschafft, meine Neugier zu wecken. „Wer um alles in der Welt ist Fritz Wandel und warum sollte ich ausgerechnet über den was schreiben?“ „Haben Sie Zeit?“, lautet die
Gegenfrage. Ich schaue auf meine Armbanduhr. „Bis mein Zug nach Stuttgart kommt, noch eine dreiviertel Stunde. Reicht das?“ „Das reicht. Ich bin übrigens Sven.“ „Freut mich, Sven. Sind Sie
noch Schüler?“ „Ich mache dieses Jahr mein Abitur und sagen Sie bitte Du zu mir.“ „Okay, dann los.“ „Fritz habe ich auf dem AEG kennen gelernt.“ Wieder spricht Sven in Rätseln. AEG
kenne ich nur als Slogan eines Haushaltsgeräteherstellers: Aus Erfahrung gut. Sven deutet mein fragendes Gesicht richtig. „Albert-Einstein-Gymnasium“, löst er das
Buchstabenmysterium. „Im Geschichtsunterricht sollte ich ein Referat halten, ich habe über Fritz Wandel recherchiert und einen Vortrag über sein Leben gehalten.“ Aha, es geht also um
einen berühmten Sohn der Stadt, gähne ich innerlich.
„Jetzt denken Sie bestimmt, der will mir was von einem berühmten Sohn der Stadt erzählen.“ Wieder verblüfft mich der junge Mann. “Warten Sie ab, Fritz war ein ziemlich unbequemer Bursche,
ein Querkopf und Freigeist dazu. Das erklärt vermutlich auch, warum er bis heute nicht Ehrenbürger der Stadt ist, warum keine Straße und kein Platz hier in Reutlingen nach ihm benannt
ist.“ Nun will ich es aber genauer wissen. Ich drehe mich zu Sven, zücke meinen Stift und signalisiere Schreibbereitschaft. „Fritz ist im Jahr 1900 mit seiner Familie nach Reutlingen
gekommen, da war er zwei. Er ist das älteste von acht Kindern. Als er zwölf Jahre alt ist, stirbt der Vater, Fritz muss, obwohl er als intelligent gilt, von der Schule gehen, um als
Tagelöhner zum Lebensunterhalt der Mutter und der Geschwister beizutragen. Mit 18 wird er zum Militär eingezogen und zieht als Infanterist in den Ersten Weltkrieg. Er kommt in Gefangenschaft und
kehrt 1919 nach Reutlingen zurück. Er arbeitet in einer Maschinenfabrik, tritt in die Gewerkschaft ein und wird Mitglied der KPD. Da er rhetorisch geschickt ist und sich politisch
engagiert, wird er im Laufe der Jahre ein bedeutender Repräsentant der dortigen Arbeiterbewegung. Auch privat läuft es nicht schlecht, Fritz heiratet 1923, wird Vater eines Sohnes, 1929
kommt eine Tochter hinzu. 1931, man mag das heute kaum glauben, wird er als Kommunist Mitglied im Reutlinger Gemeinderat.“
Sven macht eine Pause. Und fährt dann fort.„Bis hierhin keine völlig ungewöhnliche Lebensgeschichte, das gebe ich zu. Aber das Besondere kommt noch. Sagt Ihnen der Generalstreik in Mössingen
etwas?“ „Nie gehört“, gebe ich ehrlicherweise zu. „Aber trotzdem eine Sternstunde der Geschichte. Als am 30. Januar 1933 Hitler zum Reichkanzler ernannt wird und die NSDAP die Macht
ergreift, ist die Opposition gespalten oder verharrt wie gelähmt. Nur im kleinen Mössingen, hier ganz in der Nähe, wird zum Generalstreik aufgerufen – und der Streik wird auch
durchgeführt. An der Spitze der Streikenden steht…?“ Ich errate es: „Fritz Wandel.“ „Genau. Fritz tritt als Hauptredner auf und sagt: ‚Wenn die Hitler-Regierung am Ruder bleibt,
gibt es wieder Krieg und da will ich lieber auf der Straße verrecken.‘ Der Streik wird zerschlagen, Wandel flüchtet. Er kann sich fünf Wochen versteckt halten, wird dann im März 1933
entdeckt und festgenommen. Man verurteilt ihn zu viereinhalb Jahren Gefängnis, die er in strenger Einzelhaft verbringen muss, um ‚sein Gift nicht an die anderen Gefangenen weiter zu
verbreiten.‘ Nach Ablauf der Haftzeit wird er von den Nazis in ‚Schutzhaft‘ genommen und in das KZ nach Dachau gebracht.“
„Das war vermutlich sein Ende“, werfe ich ein. „Nein, er hat Glück, Shakespeare hat ihm das Leben gerettet.“ „Shakespeare?“ „Ein Kalenderblatt mit einem Zitat aus Macbeth lässt ihn
durchhalten: ‚So lang ist keine Nacht, dass ihr nicht doch zuletzt ein Tag erwacht‘. 1943 wird er überraschend entlassen, am 15. März.“ „Das ist heute!“ „Genau. Und genau hier auf dem
Bahnhof kam er an. Ein Soldat fällt ihm um den Hals und nennt ihn Vater. Und ein Mädchen, so groß wie der Soldat, begrüßt ihn ebenso. Es sind seine zwei Kinder, die zehn und vier Jahre alt
waren, als er fortgeholt wurde.“ „Ein Happy End?“ „Nicht ganz, Die perfiden Nazis wollen ihn als Spitzel in die Reutlinger Widerstandskreise einlotsen, er macht das Spiel der Gestapo
vermeintlich mit, erzählt ihnen Lügengeschichten, dass sich die Balken biegen Als sie ihm drauf kommen, wird er ins Strafbataillon 999 gesteckt nach dem Motto: ‚Wenn wir aus dir keinen Lumpen
machen können, dann machen wir eben einen Soldaten aus dir.‘“ „Übel. Hat er den Krieg überlebt?“ „Ja, und er hat wieder Glück. 1945 wird Oskar Kalbfell von der SPD Oberbürgermeister von
Reutlingen. Er war einst Mithäftling von Fritz Wandel und macht ihn zu seinem 3. Stellvertreter und zum Leiter des Wohnungsamtes. Fritz wird wieder Stadtrat für die KPD und Vorsitzender
der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Doch die fürchterliche Zeit im Gefängnis und im KZ fordert ihren Tribut. Schon 1948 muss er krankheitsbedingt alle politischen Ämter
abgeben. Nach ein paar Jahren als Angestellter der Friedhofsverwaltung, das ist schon fast wieder komisch, stirbt Fritz Wandel 1956. Er wird nur 58 Jahre alt.“
Ich schweige. Dann sage ich: „Ein echter Held. Ich hätte nicht gedacht, so jemanden in Reutlingen kennen zu lernen.“
Wieder Stille. Sie wird unterbrochen von der Durchsage der Bahn: „Auf Gleis 1 erhält in Kürze Einfahrt der Regionalexpress nach Stuttgart.“ Ich packe meinen Stift und das voll beschriebene
Notizbuch ein. Als ich mich gerade bei meinem Gesprächspartner bedanken will, ruft jemand: „Svenni, Svenni!!“ Ein hübsches Mädchen kommt gelaufen und fällt ihm um den Hals. „Das
ist meine Freundin. Sie heißt Friederike. Aber ich nenn sie Fritzi.“
Mein Zug fährt ein. Ich erhebe mich, lächle Sven zu und sage zum Abschied: „Ich werde etwas über den Wandel schreiben, versprochen.“